Autooperative Designs und konfluente Subjektivation:
Zur erziehungswissenschaftlichen Bedeutung von hybriden Materialitäten am Beispiel von MusikmachDingen

Kumulative Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades Dr. philosophiae, betreut von Prof. Dr. Benjamin Jörissen und entstanden im Kontext des BMBF-Verbundprojekts Musikalische Interface-Designs: Augmentierte Kreativität und Konnektivität; als komplettes pdf veröffentlicht von der Unibib der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. https://doi.org/10.25593/open-fau-1192

Zusammenfassung

Die kumulative Dissertation widmet sich der Frage nach der erziehungswissenschaft-
lichen Bedeutung von hybriden Materialitäten, die als digital-materielle Dinge und environments auf Basis von Informatisierung und autooperativen Designs in zunehmender Weise Alltagspraktiken präfigurieren sowie Selbst- und Weltverhältnisse mitstrukturieren. Exemplarisch untersucht wird dies mit guten Gründen am Beispiel von Musiktechnologien. Die eingereichten Aufsätze stellen Forschungsergebnisse aus dem Kontext des Verbundprojekts Musikalische Interface Designs: Augmentierte Kreativität und Konnektivität (BMBF 2017-2022) dar. Sie werden durch einen ausführlichen Rahmentext kultur- und grundlagentheoretisch eingebettet und forschungslogisch kontextualisiert.

Die Arbeit knüpft im weitesten Sinn an den Diskurs zur erziehungswissenschaftlichen und pädagogischen Bedeutung der Dinge an, wobei in Anbetracht der untersuchten hybriden, digital-materiellen ›MusikmachDinge‹ und environments einige perspektivi-
sche Aktualisierungen mit allgemeinpädagogischer Relevanz eingeführt werden. Im Fokus der Arbeit steht insbesondere die Frage nach dem Mitwirken der interaktiven hybriden Ding-Designs an Subjektivierungsprozessen. Im Anschluss daran stellen sich zudem Fragen nach damit verbundenen Herausforderungen und Chancen für den Bildungsbereich. Die vier Aufsätze thematisieren unterschiedliche Aspekte des Spannungsverhältnisses zwischen den Designs und Affordanzen der interaktiven Dinge, den damit verbundenen Subjektivierungsprozessen, ihrem neuartigen soziotechnischen Charakter sowie ihrer bildungspolitischen Institutionalisierung. Der Rahmentext erläutert und begründet mit Bezugnahmen auf Diskurse im Feld sowie auf thematisch angren-
zende Disziplinen das forschungslogische Vorgehen und die grundlegenden Perspektiven der Arbeit.

Die kulturhistorische Kontextualisierung der hybriden MusikmachDinge und ihrer inter-
aktiven Designs macht diese als Teil einer umfassenderen Entwicklung sichtbar, die auch die erziehungswissenschaftliche Theoriebildung selbst beeinflusst hat und sich unter dem Schlagwort einer polyvalenten gesellschaftlichen ›Kybernetisierung‹ subsumieren lässt. Im Rahmen dieser Entwicklung, der auch die Digitalisierung und der daran anschließende Postdigitalitätsdiskurs zuzuordnen sind, entstehen neue Bildungs- und Subjektverständnisse, die perspektivisch nicht mehr unbedingt auf Prozesse der (Selbst-)Reflexion abzielen und die in ihrem Kern posthumanistisch konfiguriert sind. In genealogischer Perspektive treten zwei Stränge innerhalb des ›kybernetischen Disposi-
tivs‹ zutage – ein repräsentationaler und ein körperlich- performativer – die zwei Möglichkeiten darstellen, dieses Dispositiv zu deuten, sich ihm gegenüber zu verhalten und es zu gestalten. Die beiden Stränge eröffnen nicht nur unterschiedliche individuelle und kollektive Entwicklungsmöglichkeiten, sondern spannen auch unterschiedliche normative Horizonte auf.

Da sich die Subjektivierungsprozesse bei der Auseinandersetzung mit den hybriden Materialitäten der interaktiven MusikmachDinge in hohem Maße körperlich vermitteln, wird eine Perspektive auf Prozesse verkörperter Interaktivität entwickelt, mit der sich diese vor dem Hintergrund der dargelegten Kybernetisierung als soziotechnische Grenzprozesse empirisch präzise in den Blick nehmen lassen. Um die damit verbun-
denen Subjektivierungsformen genauer zu bezeichnen, bietet sich der Begriff einer konfluenten Subjektivation an, in der Menschen und (rechnende) environments sich
aus Kooperationsgründen möglichst eng aufeinander abstimmen, wobei die aus der Environmentalität ubiquitärer Medientechnologien resultierende ›ökologische Perspek-
tive‹ sich nicht auf Einzelindividuen beschränkt, sondern auch auf überindividuelle und transsubjektive Ebenen verweist.

Ein daran anschließendes Ergebnis der Arbeit ist die Entwicklung einer Methode zum Durchführen von bildungstheoretischen Strukturanalysen für hybride, digital-materielle Medientechnologien. Dabei wird an Ideen aus der strukturalen Medienbildung ange-
knüpft, die mit medien- und designtheoretischen Perspektiven ergänzt und zu einem eigenständigen Verfahren ausgebaut werden, das komplexere Analysen erlaubt als gängige Artefaktanalysen, sich aber auch sehr gut für den Einsatz in konkreten empiri-
schen und (medien-)didaktischen Kontexten eignet. Basis dessen ist ein Subjekti-
vierungsmodell, in dem verschiedene Relationierungsebenen von Mensch und Artefakt kontrastiv in den Blick genommen und Reduktionismen aller Art möglichst vermieden werden.

Auf Grundlage der empirischen Daten aus dem Projekt wird zudem eine Typo- logie der Haltungen entwickelt, mit denen die am Projekt Teilnehmenden den aus- geliehenen Musiktechnologien begegnen. In Verbindung mit den Strukturanalysen können auf dieser Grundlage die Passungsverhältnisse zwischen Nutzer*innen und Mediendesigns
in den Blick genommen und pädagogisch fruchtbar gemacht werden. In den Haltungen zeichnen sich unterschiedliche Erwartungs-, Vorgehens-, Aneignungs- und Akzeptanz-
muster ab, bei denen musikalische und/oder technische Vorkenntnisse zwar eine Rolle spielen, aber persönliche Interessen und Anliegen, private Umfelder, individuelle Zukunftsvorstellungen usw. sich als mindestens ebenso bedeutsam herausstellen. In (medien-)didaktischer Hinsicht lässt sich die Verbindung von Haltungstypen und Strukturanalysen sehr gut operationalisieren, um passgenaue Bildungsangebote mit spezifischen pädagogischen Zielsetzungen für unterschiedliche Zielgruppen zu entwickeln.

Weitere Ergebnisse der Arbeit sind zum einen das in Auseinandersetzung mit Jacques Rancière entwickelte Konzept ›medialer Sinnlichkeitsregimes‹ und einer damit verbun-
denen Körperpolitik, die auch mit spezifischen Historizitätstypen von Bildung und ihrer Vermittlung in und durch Bildungsinstitutionen korrespondieren. Exemplarisch erläutert wird dies anhand eines kurzen empirischen Beispiels aus dem Projekt, in dem die Entwicklung und die Adaption bzw. die Ablehnung von Gestenrepertoires thematisiert wird, die sich im Rahmen neuer Medien-Musizier- Praktiken entwickeln. Zum anderen lassen sich neben dem Plädoyer für das Gestalten passgenauerer Medienbildungs-
angebote auch einige bildungspolitische Empfehlungen aus den Forschungsergebnissen ableiten. So wird einerseits für das Fördern einer integrativen (statt einer zersplitterten) Kulturellen Bildung und für den Aufbau entsprechender Reflexionskompetenzen im Feld plädiert und andererseits vorgeschlagen, das Sonische als epistemisch relevanten relationalen Weltzugang als eigenen Bereich in musikalische Bildungsangebote einzuführen.

Abstract

This cumulative dissertation is dedicated to the question of the educational significance of hybrid materialities, which, as digital-material things and environments based on informatization and autooperative designs, increasingly prefigure everyday practices and help to structure self and world relations. This is examined with good reason using the example of music technologies. The submitted essays present research results from the context of the joint research project Musical Interface Designs: Augmented Creativity and Connectivity (BMBF 2017-2022). They are embedded and contextualized in terms of research logic by a detailed framework text.

In the broadest sense, the work ties in with the discourse on the educational and pedagogical significance of things, whereby, in view of the hybrid, digital-material things and environments examined, some perspective updates with general pedagogical relevance are introduced. The work focuses in particular on the question of how the interactive hybrid designs of ›music-making things‹ contribute to subjectivation processes. This is followed by questions about the associated challenges and opportunities for the education sector. The four essays address different aspects of the tense relationship between the designs and affordances of interactive things, the associated subjectivation processes, their novel socio-technical character and their institutionalization in educational policy. The framework text explains the research logic and the fundamental perspectives of the work with reference to discourses in the field and thematically related disciplines.

The cultural-historical contextualization of hybrid music-making things and their interactive designs makes them visible as part of a broader development that has also influenced educational theory itself and can be subsumed under the buzzword of a polyvalent social ›cybernetization‹. As part of this development, which also includes digitalization and the subsequent discourse about the post-digital, new understandings of education and the self are emerging that are no longer necessarily aimed at processes of (self-)reflection but are rather post-humanist in their core configuration. From a genealogical perspective, two strands emerge within the ›cybernetic dispositive‹ – a representational and a corporeal-performative one – which represent two ways of interpreting this dispositive, relating to it and shaping it. The two strands not only open up different individual and collective development possibilities, but also span different normative horizons.

Since the processes of subjectivation in the engagement with the hybrid materialities of interactive music-making things are to a large extent mediated physically, a perspective on processes of embodied interactivity is developed with which these can be examined empirically and precisely as socio-technical boundary processes against the background of the cybernetization described above. To designate these forms of subjectivation, in which people and (computational) environments coordinate as closely as possible with each other for reasons of cooperation, the term confluent subjectivation seems to be adequate, whereby the ecological perspective resulting from the environmentality of ubiquitous media technologies is not limited to individuals, but also refers to supra-individual and trans-subjective levels.

A related result of the work is the development of a method for educational- theoretical analyses for hybrid media technologies. This is based on ideas from structural media education, which are supplemented with media and design theoretical perspectives and developed into a method that allows more complex analyses than conventional artifact analyses, but is also very well suited for use in concrete empirical and didactic contexts. This is based on a model of subjectivation in which different levels of relation between humans and artifacts are contrasted and forms of reductionism are avoided as far as possible.

Moreover a typology of the attitudes with which the participants encounter the borrowed music technologies is developed. In conjunction with the educational-theoretical analyses, it’s possible to take a closer look at the fit between users and media designs and make it useful for educational purposes. In terms of attitudes, very different patterns of expectation, approach, appropriation and acceptance emerge, in which previous musical and/or technical knowledge play a role, but personal interests and concerns, private environments, individual visions of the future, etc. prove to be at least as important in relation to the results of the engagement with the music-making things. From a media didactic point of view, the combination of attitude types and structural analyses can be operationalized well in order to develop tailor-made educational offers with specific pedagogical objectives for different target groups.

Further results of the work are, on the one hand, the concept of media sensuality regimes and an associated body politics developed with regard to Jacques Rancière. This also corresponds with specific types of historicity of education and its mediation as well as with the logics of educational institutions. This is exemplified by a short empirical example from the project, in which the development and adaptation or rejection of gesture repertoires that emerge in the context of new media-music-making practices is addressed. On the other hand some educational policy recommendations can be derived from the research results. First, the promotion of an integrative (rather than a ›fragmented‹) cultural education and the development of corresponding reflection skills in the field is advocated. And second it is suggested to introduce the sonic as an epistemically relevant approach to the world as a separate area in music education.